Krimtataren in Geschichte und Gegenwart

Krimtataren in Geschichte und Gegenwart

Organisatoren
Kerstin S. Jobst, Institut für Osteuropäische Geschichte, Universität Wien; Hüseyin I. Çiçek, Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Ort
Wien
Land
Austria
Vom - Bis
29.01.2015 - 30.01.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Kerstin S. Jobst, Institut für Osteuropäische Geschichte, Universität Wien

Der von Kerstin S. Jobst (Wien) und Hüseyin I. Çiçek (Erlangen) organisierte Workshop fand in Kooperation zwischen dem Institut für Osteuropäische Geschichte (Wien) und dem Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa (EZIRE) an der Universität Wien statt. Drei Aspekte standen bei den Planungen im Vordergrund: Vernetzung – Aktuelle Lage – Geschichte einer muslimischen Gruppe. Die Organisatoren wollten mit diesem Workshop WissenschaftlerInnen aus Deutschland, Österreich, der Türkei und der Krim miteinander vernetzen und durch interdisziplinäre Zugänge historische sowie gegenwärtige Entwicklungen auf der Krim gemeinsam neu analysieren.

Das Interesse an der Geschichte der „Gastarbeiter“ und ihrer Heimaten nimmt in Deutschland und Österreich seit einigen Jahren zu. Obwohl es in verschiedenen deutschen und österreichischen Universitäten und Städten rege Auseinandersetzungen mit dem Thema gab, so bleibt dennoch die komplexe Geschichte der Turkvölker und/oder Muslime als europäische Verflechtungsgeschichte oft unbeleuchtet. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist es ein Anliegen des EZIRE, durch die Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte der türkisch-tatarischen Intelligenz, deren Einfluss auf religiös-nationalistische Denker und nationalistische Bewegungen im Osmanischen Reich und später in der Türkei sowie in der türkei- bzw. tatarischstämmigen Einwanderungsgesellschaft in Deutschland und Österreich aufzuzeigen.

Der aktuelle Aspekt nahm großen Raum ein: Die Annexion der Halbinsel Krim durch die Russländische Föderation im Frühjahr 2014 hat nur kurzfristig das Interesse der internationalen Öffentlichkeit auf sich gezogen, obwohl dieser Schritt Moskaus doch mehrheitlich als nicht völkerrechtskonform gewertet wurde. Vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit erfuhr hingegen die sich daraus ergebene neue Lage der krimtatarischen Bevölkerung, welche auf der von ethnischen Russen dominierten Halbinsel mittlerweile einen Anteil von ca. 12 Prozent ausmacht. Da das russisch-krimtatarische Verhältnis in der Vergangenheit häufig zumindest als angespannt zu bezeichnen war, wundert die weitgehende Ignorierung dieses Aspekts durch westliche Medien. Dies zeigte sich nicht zuletzt auch auf der im Übrigen sehr gut besuchten Tagung: Kein Vertreter der eingeladenen deutschsprachigen Qualitätszeitungen oder sonstiger wichtiger Medien besuchte die Veranstaltung.

Der Eröffnungsvortrag von ANDREAS KAPPELER (Wien) bot einen umfassenden Überblick über die Geschichte des Zarenreichs vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Anhand verschiedener historischer Kontexte erläuterte Kappeler die Stellung der Muslime im Moskauer und im Russländischen Reich, in der Sowjetunion und nach deren Fall. Die Russlandmuslime waren phasenweise, aber keinesfalls durchgehend einer Christianisierungs- oder Russifizierungspolitik ausgesetzt. Teils geförderte, teils freiwillige Migrationen aus Russland kennzeichnete die Geschichte der Muslime etwa auf der Krim oder im nördlichen Kaukasus im 18. und 19. Jahrhundert. Gleichzeitig versuchten Zarentum und später die Sowjetunion, die Muslime auf ihrem Gebiet in das Ordnungssystem zu integrieren und dadurch ein Zugehörigkeitserleben zum Gesamtstaat voranzutreiben. Anhand der Themenbereiche Sicherheits-, Außen-, Siedlungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftspolitik verdeutlichte Kappeler die komplexe Beziehungs- und Entwicklungsgeschichte Russlands zu seinen Bevölkerungsteilen und zu den Nachbarstaaten.

CHRISTOPH AUGUSTYNOWICZ (Wien) widmete sich dem Bild krimtatarischer Gesandtschaften am Wiener Kaiserhof des 17. Jahrhunderts anhand der Zeremonialprotokolle. Signifikant ist dabei die Ambivalenz von Sachlichkeit im unmittelbaren diplomatischen Umgang einerseits und geringem Kenntnisstand und Interesse Wiens an Bachtschisaraj andererseits.

CLEMENS PAUSZ (Wien) sprach zu den Interaktionen zwischen Krimtataren und Zaporoger Kosaken im Kontext des Konflikts zwischen Osmanen und österreichischen Habsburgern. Im ausgehenden 16. Jahrhundert sahen der Heilige Stuhl und die österreichischen Habsburger in den Kosaken am Dnjepr einen potentiellen Bündnispartner, der im Krieg gegen die Osmanen die Krimtataren binden sollte. Die diplomatische Korrespondenz und Gesandtschaftsberichte zeigen aber, dass sich die Beziehungen zu den Zaporogern aufgrund der Verfasstheit der kosakischen Gemeinschaften schwierig gestalteten. Zusätzlich versuchten die Kosaken in der Region und gegenüber den Krimtataren unabhängig zu agieren, weswegen eine längerfristige Zusammenarbeit im Sinne der Habsburger nicht zustande kam.

MIESTE HOTOPP-RIECKE (Magdeburg) sprach zum bisher wenig erforschten Thema der preußisch-krimtatarischen Beziehungen seit der Frühen Neuzeit. Basierend auf Quellenstudien in diversen deutschen Archiven wurde das Thema anhand zweier Dimensionen beleuchtet: Einerseits bestanden bereits seit der Frühzeit des ostpreußischen Ordensstaates Kontakte zu Entitäten der Nogaj-, Wolga- und Krimtataren, die sich als krimtatarisch-preußische Diplomatiebeziehungen mit diversen Gesandtschaften und einem intensiven Briefwechsel weiterentwickelten. Andererseits gibt es eine weitgehend unbeachtete Siedlungsgeschichte krimtatarischer bzw. lipka-tatarischer Muslime in deutschen Staaten wie Brandenburg-Preußen und Sachsen.

KERSTIN S. JOBST (Wien) sprach zur Geschichte der Krimtataren im Zarenreich und der frühen Sowjetunion. Sie stellte fest, dass die rechtliche Lage der krimtatarischen Bevölkerung in beiden Systemen keinesfalls als per se minderprivilegiert zu bezeichnen ist, da diese an allen wesentlichen Reformen und Festlegungen des Russländischen Reiches (z.B. an den Großen Reformen) und der UdSSR (z.B. an der Einwurzelungspolitik, der sogenannten korenizacija) partizipierten. Zugleich waren sie einem dialektischen Modernisierungsprozess und einem Klima des Misstrauens ausgesetzt, welches auf der religiösen Differenz und der Angst der russischen und sowjetischen Eliten vor Illoyalitäten basierte.

HÜSEYIN I. ÇIÇEK (Erlangen) widmete sich in seinem Vortrag einem der wichtigsten türkisch-tatarischen Denker: Ismail Bey Gaspirali. Die bisherige deutschsprachige Literatur, die sich der Genese sowie Ideenwelt des türkischen Nationalismus widmet, untersucht den Gegenstand nur anhand von Sekundärliteratur. Ismail Bey war wesentlich daran beteiligt, dass sich unter den Krimtataren bzw. Krimtürken ein Nationalbewusstsein entwickeln konnte. Ziel dieses Vortrages war es, die Dialektiken in den Konstruktionen türkischer Identität anhand der Originalschriften von Ismail Bey Gaspiralı nachzuzeichnen. Es war das Verdienst der „Dış Türkler“ (Auslandstürken), die außerhalb des Osmanischen Reiches die Idee des Türkentums bzw. Irredentismus propagiert und verteidigt hatten, dass überhaupt ein türkisches Nationalbewusstsein im 19. Jahrhundert entstehen konnte.

ZAUR GASIMOV (Istanbul) trug zu den krimtatarischen Intellektuellen im Dreieck Polen-Krim-Türkei vor. Im Fokus seiner Darstellung standen die Brüder Ismail und Ibrahim Otar, die seit den 1930er-Jahren eine wichtige Rolle als Mittler zwischen Polen und der Türkei am Bosporus spielten. Der Beitrag Gasimovs beruhte auf umfangreichem Quellenmaterial des von ihm erschlossenen Privatarchivs von Ismail Otar (ISAM, Istanbul) sowie einer Reihe weiterer Privatarchive krimtatarischer Exilanten in Istanbul.

AISHE MEMETOVA (Hamburg) sprach über die aktuelle Situation der Krimtataren aus rechtlicher Perspektive. Die Krimtataren, die autochthone Bevölkerung der Krim, hatten sich kollektiv gegen das völkerrechtswidrige Referendum und die folgende Annektierung der Krim durch Russland ausgesprochen. Dementsprechend stark hatte der Nationalrat Medschlis seine proukrainische Position geäußert. Aus diesem Grund seien Krimtataren und krimtatarische Institutionen wie der Milliy Medschlis, Massenmedien, Bibliotheken, Moscheen sofort nach der Annektierung Objekte repressiver Maßnahmen der neuen Krimmachthaber geworden. Die Aktivisten der nationalen Bewegung würden nun verstärkt verfolgt, verhaftet, verschleppt und ermordet. Der maßgeblichen Symbolfigur der Krimtataren, dem Abgeordneten der Hohen Rada, Mustafa Dschemilev, und dem derzeitigen Medschlis-Präsidenten Refat Tschubarov wurde die Einreise auf die Krim verboten. Die Menschen hätten in einer Stimmung der Angst und Unsicherheit zu leben. Es gebe keine internationalen Organisationen, die heute auf der Krim die Lage der Menschenrechte beobachteten. Die Krimtataren seien tatsächlich allein gelassen mit allen Problemen und daher besonders verletzbar.

MARTIN MALEK (Wien) beleuchtete in seinem Vortrag die aktuelle Situation aus verschiedenen Perspektiven. Die 1944 kollektiv nach Mittelasien deportierten Krimtataren konnten ab dem Ende der 1980er-Jahre sukzessive in ihre historische Heimat zurückkehren; heute stellen sie ca. 12 Prozent der Bevölkerung der Krim. Heimkehr und Einrichtung auf der Krim stießen auf viele politische, sozioökonomische und kulturelle Probleme. Maleks Beitrag analysierte diese Probleme ebenso wie das Verhältnis der Krimtataren zur Politik auf der Krim und in der ganzen Ukraine (Wahlverhalten, das Agieren des Medschlis usw.). Mit der unerwarteten russischen Okkupation der Krim im März 2014 trat eine grundlegende Änderung der Rahmenbedingungen des Lebens der Krimtataren ein.

In einem anschließenden Rundtischgespräch wurde gemeinsam eruiert, welche nachhaltigen, innovativen Ansätze es geben kann, um langfristig grenzübergreifend Krimtatarenforschung sichtbarer, für Kollegen Osteuropas partizipativer und für Disziplinen jenseits von Turkologie, Islamwissenschaft und Osteuropageschichte attraktiver zu machen. Ein Input-Referat von Mieste Hotopp-Riecke illustrierte am Beispiel von Institute for Caucasica-, Tatarica- and Turkestan Studies(ICATAT)-Projekten mit Krimtataren-Bezug die potenziellen Ressourcen und aktuellen Schwierigkeiten dieses Bereiches der Tatarica- Forschung: Einerseits können gerade angesichts der rezenten teils hysterisch geführten Euro-Islam-Debatten die noch wenig erforschten Beziehungen zwischen Krim-Khanat und mitteleuropäischen Staaten sowie die Kulturgeschichte der muslimisch-tatarischen Einwohner des Baltikums inklusive Polen/Brandenburg-Preußen für eine faktenbasiertere versachlichte Auseinandersetzung mit dem Thema sorgen. Andererseits sorgen Ukraine-Krieg und Krim-Annexion durch die Russländische Föderation derzeit für ein Auseinanderbrechen bzw. die schwierigere Anbahnung von direkten Forschungsprojekten mit Kollegen auf der Krim.

Um diesen Entwicklungen Rechnung zu tragen und mittels Vernetzung und Information neue Perspektiven zu öffnen, wurde beschlossen, eine öffentliche akademische Plattform für Krimtataren-Forschung zu installieren (www.krimtataren.eu) und der Veranstaltung nächste Treffen und Projekte folgen zu lassen.

Konferenzübersicht:

Kerstin S. Jobst (Wien) / Hüseyn Cicek (Nürnberg/Erlangen), Begrüßung und Einführung

Keynote:
Andreas Kappeler (Wien), Muslime im Zarenreich und in der Sowjetunion

Christoph Augustynowicz (Wien), Krimtatarische Gesandtschaften am Wiener Hof

Clemens Pausz (Wien), Krimtataren und Zaporoger Kosaken im 16. und 17. Jahrhundert

Mieste Hotopp-Riecke (Magdeburg), Preußisch-krimtatarische Beziehungsgeschichte

Kerstin S. Jobst (Wien), Krimtataren im Zarenreich und in der frühen Sowjetunion

Hüseyin Cicek (Nürnberg), Feindschaft in den Schriften Ismail Bey Gaspiralis?

Zaur Gasimov (Istanbul), Exilanten, Mittler und Europäer: Krimtatarische Intellektuelle zwischen Polen und der Türkei

Aishe Memetova (Hamburg), Zur aktuellen Lage der Menschenrechte auf der Krim

Martin Malek (Wien), Input zur Diskussion

Mieste Hotopp-Riecke (Magdeburg), ICATAT als Schnittstelle zwischen Jugendbildung, Turkologie und NGO-Arbeit